Kinderschutzpreis-careleaver

HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2020

Plötzlich erwachsen: Sprung ins Leben  

Der Dresdener Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V. erhält für sein Projekt „House of Dreams. Careleaverzentrum und Careleaverarbeit in Sachsen“ (Anerkennungspreis)

Hamburg. Bundesweit leben durchschnittlich rund 190.000 Kinder und Jugendliche in Wohngruppen oder Heimen. Manchmal ist es ein Aufenthalt auf Zeit, vielfach bleiben die Kinder und Jugendlichen bis zur Vollendung ihres 18. Lebensjahres. Eines haben sie in vielen Fällen gemeinsam: Ihr Aufwachsen ist durch traumatische Ereignisse geprägt. Körperliche Gewalt, schwere Vernachlässigung oder psychisch belastende Einschnitte bestimmen das Leben dieser jungen Menschen. Die Gründe sind vielfältig und liegen oft in der Überforderung der Eltern oder auch in Suchterkrankungen. Viele der Erziehungsberechtigten haben selbst nie ein intaktes Familienleben erlebt – eine fatale Kette aus ersehnter Liebe, Respektlosigkeit und Gewalt. Heime bzw. Wohngruppen geben den betroffenen Kindern Halt, Struktur und versorgen sie mit allem, was Heranwachsende benötigen. Doch es sind meist keine Orte, die liebevolle Geborgenheit gewährleisten können. Personalwechsel und Schichtdienst sind hier Alltag. Und dann, mit 18 Jahren, der Volljährigkeit, fällt auch dieses Zuhause weg. Ausgerechnet im schwierigen Übergang zwischen Schule und Erwachsenenleben brechen die bisherigen Hilfen und Bezugspersonen weg. Die jungen Erwachsenen, die so plötzlich auf eigenen Füßen stehen sollen, werden Careleaver genannt.

Statistiken zeigen, dass Kinder, die zu Hause aufwachsen, das Elternhaus im Durchschnitt mit 24,5 Jahren verlassen, Jugendliche aus Heimen und Jugendgruppen hingegen mit 18 Jahren - eine Lücke von sechseinhalb Jahren. Nur jede sechste stationäre Hilfe geht über das 18. Lebensjahr hinaus. In Deutschland weiß man wenig über den Lebensweg von Careleavern. Internationale Forschungsarbeiten zeigen jedoch, dass ihre Bildungsabschlüsse meist deutlich schlechter ausfallen als die ihrer Altersgenossen, nur ein Prozent von ihnen studiert. Auch Jessica Böttger (22) musste den Schritt aus der Wohngruppe in ihre erste eigene Wohnung schaffen. Mehrmals täglich ging sie in die umliegenden Geschäfte und kaufte einzeln ihre Lebensmittel ein. Sie konnte die Einsamkeit in den eigenen vier Wänden nicht ertragen, wollte unter Menschen sein. So wie viele andere Careleaver wusste sie nicht, wie man sich ein soziales Netz außerhalb der Heimunterbringung aufbaut.

 

Hilfe fand sie im „House of Dreams. Careleaverzentrum“ inmitten der trubeligen Neustadt Dresdens. Das Projekt des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins e.V. ist seit 2019 die Anlaufstelle für Jugendliche zwischen 16 und 27 Jahren, die sich im Übergang von staatlichen Jugendhilfe-Einrichtungen in die Selbständigkeit befinden. Björn Redmann, Gesamtprojektkoordinator des Kinder- und Jugendhilferechtsvereins, erläutert die Herausforderungen für die jungen Erwachsenen: „Careleaver müssen früher selbständig werden als Gleichaltrige, sie sind im Bildungsbereich häufig benachteiligt, sie verlieren ihr gewohntes Wohnumfeld und bekannte Strukturen, ohne im Übergang auf stabile Freundschaften und das Elternhaus zurückgreifen zu können.“ Elsa Thurm, Projektleiterin des Careleaverzentrums, weiß, dass viele Betroffene zu vereinsamen drohen, sie oft Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden, weil Bürgen fehlen. „Hinzu kommt, dass sie innerhalb ihrer Jugendhilfe-Zeit keine Gelder ansparen konnten, weil zusätzliche Verdienste angerechnet werden. Die finanziellen Unsicherheiten sind entsprechend groß“, berichtet sie. Scheitern die jungen Menschen in ihrer Selbständigkeit, gibt es nur sehr begrenzte Rückkehrmöglichkeiten in Unterstützungssysteme der Jugendhilfe.


Jessica Böttger  engagiert sich mittlerweile ehrenamtlich im Careleaverzentrum: „Eigentlich ist es Aufgabe der Jugendhilfeeinrichtungen, die jungen Menschen auf das Leben vorzubereiten. Doch leider passiert dies nur selten“, kritisiert Böttger das System. „Im House of Dreams schließen wir diese Lücke mit verschiedensten Angeboten wie Kreativkursen für die Freizeit, gezielten Beratungsangeboten und alltagstauglichen Hilfen, wie beispielsweise der Begleitung bei der Wohnungsbesichtigung oder der Klärung der Frage, wie Flecken aus der Kleidung entfernt werden können. Wir wissen, worauf es ankommt, denn wir haben diese Phasen alle selbst durchlebt.“ Und so ist es selbstverständlich, dass der freizugängliche Kühlschrank im Gemeinschaftsraum am Monatsende immer besonders gut gefüllt ist: Hier darf man sich für zu Hause bedienen, wenn es einmal knapp wird.


„Das Leben fordert uns schon sehr. Das zeigte sich bei der Sanierung unserer Büro- und Gemeinschaftsräumlichkeiten. Welcher Fußboden ist geeignet? Welche Möbel passen zu welcher Wandfarbe? Das war für uns Careleaver nicht einfach, da in der Vergangenheit immer andere für uns entschieden haben, oder es gar eine Verwaltungsvorschrift gab“, berichtet Jessica Böttger abschließend. „Wir haben die Herausforderungen ganz ohne Hausordnung gemeistert, als Team und als Freunde.“ Zusammenhalt, das ist etwas, das der Verein auch über den eigenen Tellerrand hinaus stärken möchte. „Das mit der Auszeichnung durch die HanseMerkur verbundene Preisgeld“, so Redmann, „möchten wir unter anderem nutzen, um die europaweite Vernetzung zu anderen Careleaver-Zentren auszubauen.“


Das Careleaverzentrum „House of Dreams“ ist ein vielschichtiges Projekt, das junge Menschen in einer besonders schwierigen Lebensphase auffängt. Der Verein leistet hervorragende Hilfe zur Selbsthilfe und trägt dazu bei, auf die besondere Situation von Careleavern aufmerksam zu machen. Das Projekt „House of Dreams. Careleaverzentrum und Careleaverarabeit“ in Sachsen ist ein würdiger Preisträger des HanseMerkur Preis für Kinderschutz (Anerkennungspreis 2020), der mit 10.000 Euro dotiert ist.

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