„Muessen das große Reformrad drehen“

„Maritimer Sommertreff“ in Kiel

 „Müssen das große Reformrad drehen“

Kubicki beklagt die Zustände im Land und verlangt eine neue „Agenda 2030“

Von Stefan Lipsky

Kiel, 17. August 2023. Eine günstige Stromversorgung sichern, niedrigere Steuern und höhere Investitionen, weniger Bürokratie, qualifizierte Zuwanderung, längere Lebensarbeitszeit – in einem politischen Rundumschlag erläutert Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) in Kiel vor 300 Vertretern der maritimen Branche seine „Agenda 2030“. Dabei rechnet Wolfgang Kubicki auf dem „Maritimen Sommertreff“ hart mit den bestehenden Verhältnissen ab – die Deutschen arbeiten weniger als ihre Nachbarn, unsere Infrastruktur ist verkommen, Unpünktlichkeit auch bei der Bahn und eine „verrückte“ Energiepolitik sind zu beklagen. Kubicki stellt dringende Forderungen auf und sagte im Einzelnen:

Zum einen ist es offensichtlich, dass Deutschland ein strukturelles, ein fundamentales ökonomisches Problem hat – das vielerlei Gründe hat und leider immer größer wird. Der Reformbedarf ist riesengroß. Und zum anderen ist es kein Geheimnis, dass viele Menschen ruhiger schlafen würden, hätte das verantwortliche Bundesministerium aktuell eine andere Spitze.


Eine lange Problem-Liste

Für eine vernünftige Problemlösung ist es nötig, zuerst mit einer rückhaltlosen Problembeschreibung zu beginnen: Es gibt leider sehr viele schlechte Nachrichten. Wir spielen nicht mehr oben mit. Bei der Betrachtung der nackten Rahmendaten kann man die guten Nachrichten mittlerweile mit der Lupe suchen:

 

  • Deutschland zählt nicht mehr zu den 20 wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt.
  • Deutschland ist nicht mehr unter den zehn ersten Ländern Europas beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.
  • Der Internationale Währungsfonds erwartet für dieses Jahr ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um 0,3 Prozent als einzige große Volkswirtschaft weltweit.
  • Kaum ein Land der Welt hat höhere Energiepreise als Deutschland.
  • Der Fachkräftemangel nimmt rasant zu: Fast 540.000 Stellen können hierzulande aktuell nicht besetzt werden.
  • Zugleich verlassen 50.000 Menschen bei uns die Schule ohne Abschluss – jedes Jahr.
  • Gemessen am Digitalisierungsgrad ist Deutschland nicht einmal mehr in Europa unter den ersten zehn.

 

Zwei Stunden Arbeit pro Tag zu wenig

Hinzu kommen die allseits bekannten Probleme: Wir arbeiten zu wenig. Deutschland hat die kürzeste Jahresarbeitszeit der Welt. Bei einem 230-Tage-Jahr arbeiten zum Beispiel unsere polnischen Nachbarn rechnerisch pro Tag (!) über zwei Stunden mehr als wir. Die aktuelle Diskussion über eine Vier-Tage-Woche ist zwar schön theoretisch, aber völlig realitätsfern.

 

457 Milliarden für Infrastruktur

Unsere Infrastruktur ist kaum noch satisfaktionsfähig. Schon vor drei Jahren haben das „Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung“ und das „Institut der Deutschen Wirtschaft“ den zusätzlichen Investitionsbedarf für die öffentliche Infrastruktur auf 457 Milliarden Euro beziffert. Diese Summe ist seitdem nicht kleiner geworden.

Wir brauchen intakte Straßen, Brücken und Schienenwege. Im vergangenen Jahr waren nur zwei von drei Intercity- oder ICE-Zügen pünktlich. Pünktlich kann ein Zug übrigens noch sein, wenn er weniger als sechs Minuten verspätet ist. Wir sind offensichtlich schon mit wenig zufrieden.

 

Zum Strom-Importeur geworden

Und die deutsche Energiepolitik ist mit Charakterisierungen wie „erratisch“ und „verrückt“ vielleicht am treffendsten beschrieben. Ich bin wahrlich kein Freund der Kernenergie. Aber wer in der aktuellen Krisenlage Kernkraftwerke stilllegt und stattdessen auf Kohle setzt, sollte es besser unterlassen, ständig vor dem Klimakollaps durch hohe CO2-Belastung zu warnen. Wir haben den zweitschmutzigsten Strom Europas – und dafür tragen ausgerechnet die Grünen die Hauptverantwortung.

 

Ich habe Robert Habeck noch sehr gut im Ohr, als er sagte, wir hätten kein Stromproblem. Das ist nur ein Jahr her. Fakt ist aber: Deutschland ist in Europa vor allem wegen der Stilllegung der verbliebenden Kernkraftwerke vom Stromexporteur zum Stromimporteur geworden. 469 Millionen Euro hat die Bundesrepublik allein im Juli für den Stromimport an die europäischen Nachbarn überwiesen.

 

Wenn nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine der politische Schluss war, die energetischen Abhängigkeiten von anderen Staaten zu reduzieren, dann hat diese Erkenntnis nicht zum Umdenken geführt. Wir haben an anderer Stelle gleich weitergemacht: In Sachen Strom sind wir abhängiger geworden – zum Beispiel von französischem Atomstrom und polnischem Kohlestrom.

 

Eigene Quellen nutzen

Abhängiger sind wir auch durch die LNG-Zulieferungen geworden. So richtig es ist, die Energiezufuhr zu diversifizieren, so wenig Sinn ergibt es, Gas teuer im Ausland zu kaufen, es mit einer miserablen CO2-Bilanz über den Atlantik zu transportieren, wenn wir unseren Bedarf zumindest zum Teil aus heimischen Quellen decken können.

 

Wir müssen nicht nur unsere Öl- und Gasvorkommen in der Nord- und Ostsee nutzen, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht. Wir müssen ebenfalls dringend darüber nachdenken, die Schiefergasvorkommen vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zu erschließen. Das pauschale Fracking-Verbot, das 2016 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde, ist verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar. Der gesetzliche Auftrag zur Überprüfung des Verbotes ist seit zwei Jahren überfällig. Es besteht nicht nur eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, sondern es ist auch energiepolitisch unerlässlich, dieses Thema parlamentarisch zu debattieren – insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass im Jahr 2021 die eigens hierfür eingerichtete Expertenkommission festgestellt hat, dass die Schiefergasförderung ohne durchgreifende umweltpolitische Bedenken möglich ist. Wahrscheinlich ist diese Einschätzung der wahre Grund für Missachtung des gesetzlichen Auftrages zur Überprüfung des Verbotes.

 

Und grundsätzlich stellt sich die Frage an den Wirtschaftsminister: Warum sollten wir die Wertschöpfung ins Ausland verlagern, wenn wir sie im eigenen Land generieren können?

 

 

Zu lange von der Substanz gelebt

Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Linde AG, Wolfgang Reitzle, hat vor ein paar Tagen in einem bemerkenswerten Gastbeitrag für die „Welt“ richtigerweise darauf hingewiesen, dass in den 16 Jahren Angela Merkel keine einzige große Strukturreform angegangen wurde. Vielmehr gab es nur ein situatives, von Meinungsumfragen dominiertes Verwalten und Verteilen unseres Wohlstands. Wir haben uns in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wirtschaftspolitisch in einer Ambitionslosigkeit eingerichtet, die uns jetzt schmerzlich vor die Füße fällt – und die die Zukunftsfähigkeit unseres Landes substanziell gefährdet.

 

Vor allem bereitet mir Sorge, dass ein jahrzehntelanger Konsens über das Streben nach Wohlstand offenbar aufgekündigt wurde. Es war seit den Wirtschaftswunderjahren unstrittig, den Wohlstand hart zu erarbeiten, um sich selbst einmal etwas leisten zu können, aber vor allem, damit die Kinder es einmal besser haben.

 

Jetzt wird in vielen Feuilletons und auch in Parteien des linken politischen Spektrums oft das steinzeitliche Ideal des Degrowth, des ökonomischen Schrumpfens, beschworen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Hier müssen wir alle deutlich machen, dass wirtschaftlicher Rückschritt große Opfer mit sich bringt.

 

Nämlich: Weniger ökonomische Teilhabe für viele Menschen, weniger Freiheit, weniger Sicherheit – und auch weniger Möglichkeiten, anderen zu helfen. Wer ernsthaft diese Position vertritt, meint es nicht gut mit seinen Mitmenschen.

 

Rückzug ins Private

Hinzu kommt noch ein weiteres, was aus demokratischer Sicht problematisch ist und was am Ende auch negativ auf unsere Wettbewerbsfähigkeit rückkoppeln kann: Vor wenigen Wochen wurde im Rahmen der sogenannten „Rheingold-Studie“ herausgefunden, dass es in der bundesdeutschen Gesellschaft einen großen Trend ins Private gibt. Einer der beteiligten Wissenschaftler stellte fest:

 

„Die Erkenntnisse der Studie kann man als dramatisch bezeichnen. Eine tiefe Resignation gegenüber der Politik und unseren Zukunftsmöglichkeiten, wie sie sich hier zeigt, bedroht unser nationales Zusammenleben. Wir sehen zu, wie ein ganzes Land vor der Wirklichkeit in Deckung geht, während sich die Verantwortlichen in der Berliner Politik im Klein-Klein verheddern.“

 

Mit anderen Worten: In einer solchen Gemengelage ist es für gut organisierte Lobby-Gruppen einfacher, ihre politischen Agenden ohne Rücksicht auf Verluste umzusetzen. So haben es vor Kurzem ja Teile der Grünen versucht, harte und härteste Maßnahmen der eigenen Agenda mit dem Gebäudeenergiegesetz durchzuprügeln. Zum Glück sind sie am Ende damit an uns gescheitert.

 

Aufstieg der AfD

Das Bild, das aber vom politischen Betrieb entstand, war fatal. Das Resultat der grünen Kopf-durch-die-Wand-Politik sehen wir aber schon jetzt: In den Umfragewerten der AfD. Es ist nicht besonders kühn zu prognostizieren, dass uns diese tiefgreifende Frustration im kommenden Jahr bei den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg an den Rand unserer demokratischen Kapazitäten bringen wird.

 

Wir erleben, dass der Versuch, das Leben entlang von politischen Maßstäben auszurichten, nicht dazu führt, dass sich die Menschen aktiv mit Widerspruch wehren. Vielmehr führt es zur Abwendung von der Politik und zur stillen Protestwahl.

 

Und wenn Konflikte dauerhaft nicht öffentlich ausgefochten werden, dann schwelen sie so lange, bis sie eskalieren. Wir müssen deshalb dringend daran arbeiten, dass wir die Konflikte ohne moralische Vorhalte benennen und die dahinterstehenden Probleme lösen. Gelingt uns das nicht, sehe ich große Gefahren für die Zukunft unseres Landes – ökonomisch wie demokratisch.

 

Eine neue Agenda fehlt

Aber es gibt nicht nur schlechte Nachrichten, es gibt auch Hoffnung: Wenn nach 16 Jahren Kohl und vier Jahren Schröder mit der „Agenda 2010“ eine Antwort auf die ökonomische Schwäche gegeben werden konnte, dann können wir heute die Antwort auf unsere wirtschaftlichen Probleme als „Agenda 2030“ formulieren. Wie könnte diese Agenda 2030 aussehen?

 

Zunächst brauchen wir dringend günstigen Strom, der Strompreis ist ein wichtiger Standortfaktor. Wir brauchen keinen subventionierten Strompreis für wenige, sondern einen funktionierenden Strommarkt, der günstige Preise für alle anbietet.

 

  • Wir brauchen deutlich bessere Standortbedingngen, niedrigere Steuern durch bessere Abschreibungsmöglichkeiten und eine Förderung von Investitionen und Forschung.


  • Dass wir seit mindestens 30 Jahren immer wieder von Bürokratieabbau sprechen und nichts passiert, sollte uns nicht davon abhalten, es jetzt wirklich auch einmal zu tun. Deshalb sollte jede neue bürokratische Maßnahme mit der Streichung von zwei alten abgegolten werden.


  • Wir brauchen qualifiziertere Zuwanderung, um dauerhaft unser Wohlstandsniveau halten zu können. Und wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wie wir die bereits im Land befindlichen Flüchtlinge besser in den Arbeitsmarkt integrieren können.


  • Und wir müssen vorurteilsfrei über eine längere Jahres- und Lebensarbeitszeit sprechen. Wenn alle anderen Länder mehr arbeiten als wir, dann ist es wahrscheinlicher, dass wir uns in der aktuellen Krisensituation an die anderen annähern müssen, als andersherum.

 

 

Die aufgetürmten Probleme bedingen es, dass wir in der Wirtschaftspolitik das ganz große Reformrad drehen. Wenn es gelingt, wie Anfang der 2000er Jahre eine große Lösung für das große Problem zu finden, dann wird auch die Sehnsucht einiger nach einem großen starken Mann kleiner werden. Nur durch ernsthafte und ideologiefreie Problemlösung kann es gelingen, der grassierenden Frustration wieder Herr zu werden.

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