Zwischen Reformstau und Rezession: Warum Deutschland beim Bürokratieabbau endlich liefern muss

Beim traditionellen Martinsgansessen von NORDMETALL fordern Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gleichermaßen entschlossenen Bürokratieabbau – doch zwischen Reformversprechen und Realität klafft weiterhin eine gefährliche Lücke

Hamburg, 19. November 2025. Deutschland ächzt unter Bürokratie. Unternehmen klagen über Dokumentationspflichten, langwierige Genehmigungsprozesse und digitale Rückständigkeit – Probleme, die sich inzwischen tief durch Wirtschaft, Verwaltung und Politik ziehen. Auch in der Europäischen Union wächst der Unmut über ein Regulierungsniveau, das den Binnenmarkt ursprünglich stärken sollte, ihn aber zunehmend lähmt. Lange galt Bürokratie als notwendiges Regulativ, heute wird sie zum Standortnachteil. Die Diskussion ist emotional, aber auch existenziell: Für die Zukunftsfähigkeit einer Volkswirtschaft, die in Rezession und Reformstau feststeckt.

Diese Gemengelage bildete den Hintergrund des 48. NORDMETALL-Martinsgansessens in Hamburg – ein Abend, an dem Arbeitgeber, Politik und Gewerkschaften ungewöhnlich offen über die Lage im Land sprachen.


„Bürokratierückbau und Wachstum jetzt!“ – Berlin kündigt Ambitionen an


Philipp Amthor (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung, brachte den gut 450 Gästen aus Wirtschaft und Gesellschaft „begründete Zuversicht“ aus Berlin mit. Die Bundesregierung habe sich – so Amthor – mit der geplanten Kostensenkung von 16 Milliarden Euro „die ambitioniertesten Bürokratierückbauziele seit Beginn der Bundesrepublik“ gesetzt. Er betonte zugleich, dass Bürokratieabbau nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine demokratische Frage sei: „Zettelwirtschaft und Bürokratie sind ein Demokratieproblem.“ Auch Europa bekam in seiner Rede einen deutlichen Hinweis mit: „Die Europäische Union ist gegründet worden, um den Binnenmarkt zu stärken und nicht, um uns zu Tode zu regulieren.“ Modernisierung sei jedoch nicht allein eine Frage von Gesetzen und Programmen, sondern ein Kulturwandel: „Schneller, handlungsfähiger, digitaler, nachprüfbarer – das ist mein Versprechen.“


Wirtschaft: Frust über Stillstand, hohe Kosten und mangelnden Mut


Für NORDMETALL-Präsident Folkmar Ukena reichen Versprechen längst nicht mehr. Er verwies auf dramatische Befunde der jüngsten Konjunkturumfrage des Verbands: „Vier von fünf Unternehmen leiden unter zu hohen Arbeitskosten, Steuern und Abgaben. Zwei von drei Betrieben beklagen zu viel Bürokratie.“ Auch die Energiepreise bleiben ein Bremsklotz: „60 Prozent klagen über zu hohe Energiekosten.“ Besonders alarmierend: „Jedes vierte Unternehmen plant Produktionsverlagerungen ins Ausland – ein trauriges Allzeithoch.“

In der anschließenden Podiumsdiskussion wurde die Kritik aus der Wirtschaft noch deutlicher.


Lena Ströbele, Geschäftsführerin der Lürssen Maritime Beteiligungen GmbH & Co. KG und NORDMETALL-Vizepräsidentin, fand klare Worte: „Mir fehlt es gewaltig an Mut.“ Politische Vorstöße würden zwar diskutiert, aber bei Zielkonflikten breche der Reformwille sofort ein: „Die Versprechungen der Politik zu Entlastungen, Reformen, Geschwindigkeit und Umbau sind nicht eingelöst worden.“ Und sie formulierte eine Grundsatzkritik am politischen Umgang mit Unternehmen: „Man traut uns immer weniger zu und vertraut uns weniger. Das muss sich ändern.“


IG Metall: Bürokratie abbauen ja – Sozialabbau nein


Christiane Benner, Erste Vorsitzende der IG Metall, unterstützte den Ruf nach entschlossenem Handeln – allerdings mit anderen Prioritäten. Die Probleme lägen weniger in arbeitspolitischen Schutzregelungen, sondern in den wirtschaftlichen Realitäten der Betriebe: „Wir haben ganz andere Problemlagen mit Unterauslastung und drohender Insolvenz.“Die aktuelle Debatte über Sozialabbau nerve sie: „Beim Bürokratieabbau haben wir seit Jahren mit dem Gesicht zur Wand geschlafen.“ Eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes lehnte sie strikt ab: „Wir werden uns quer stellen, wenn es um eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes geht.“ Gleichzeitig rief Benner zu einem gesellschaftlichen Stimmungswechsel auf: „Wir sollten die Stimmung in diesem Land drehen, sodass wir zusammen anpacken. Ich möchte alles dafür tun, dass wir die AfD nicht stärken.“ Zum Bundestariftreuegesetz plädierte sie für eine pragmatische Lösung: „Eine einfache Erklärung der Verbände über die Tarifgebundenheit könnte ausreichen.“


Hamburgs Wirtschaftssenatorin: Streit in Berlin zermürbt Bevölkerung


Zum Schluss ordnete Hamburgs Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Innovation, Dr. Melanie Leonhard (SPD), die politische Lage ein: „Die Menschen sind müde, eine Bundesregierung im Streit über eigentlich geeinte Themen zu erleben.“ Der Dauerstreit der Ampel schade dem Zusammenhalt und der Reformfähigkeit. Kompromisse gehörten zum Kern der Demokratie, so Leonhard, und müssten wieder stärker akzeptiert werden. „Jetzt ist es an Bund und Ländern zu zeigen, dass sie Vorhaben auch möglichst bürokratiearm umsetzen können.“


Ein Abend voller Klartext – und ein Signal: Es muss endlich losgehen


Seit 1978 lädt NORDMETALL zum traditionellen Martinsgansessen. Doch selten war die Lage so gespannt wie in diesem Jahr. „Zwischen Rezession und Reformstau – wann geht’s los mit Wirtschaftswende und Bürokratieabbau?!“ lautete die zentrale Frage – und sie bleibt drängender denn je. Am Rande der Veranstaltung wurden zudem die Gewinner des Wettbewerbs „Best Azubi Pic 2025“ ausgezeichnet. Der erste Preis ging an Auszubildende von Liebherr-Rostock.

Quelle: NORDMETALL

Bearbeitet: Jasmin Missler